Soziokratie
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Soziokratie hat eine Quelle, einen Ursprung, der nicht in der Gegenwart oder in der jüngeren Vergangenheit auszumachen ist. Um den Moment ihrer Entstehung lokalisieren zu können, benötigt der forschende Erkenntniswille nicht mehr, als ihren Zweck mit der Bezugsgröße Gemeinschaft in Verbindung zu bringen, die ihn dadurch unabänderlich rechtfertigt. Diese Referenz ergibt die Qualität, die hinreichende Wahrnehmung und den Kontext von Beziehungen, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung, beginnend mit der Kommunikation, innerhalb von Arbeits- und Lebensgemeinschaften, entwickelt, ausgebaut und kultiviert hat.
Da Soziokratie ursprünglich fest in das sozialitätsgebundene Entscheidungsgremium in Form des Familien- bzw. Ältestenrates eingebunden und dadurch mit dem kooperativ-schöpferischen Wirken des Menschen inhaltlich verbunden war und stellenweise noch ist, kann sie nicht als säkularisiert von seiner gemeinschafts- bzw. gesellschaftsorientierten Entwicklung betrachtet werden. Ab einem gewissen Punkt in seinem soziologischen Zusammenleben erschien es dem in Gemeinschaftsgröße handelnden und denkenden Menschen wahrscheinlich unabdingbar, ein Verfahren zu entwickeln und anzuwenden, welches es ihm erlaubte, bestimmte Bereiche der täglichen Interaktion untereinander und im erweiterten Umfeld zu organisieren.
Dazu gehörte eine gleichgesinnte Beratungs- und Beschlussfassungsrunde herauszubilden, denn nichts anderes ist Soziokratie. Eine solche Verfahrensweise rekrutierte sich somit aus der Notwendigkeit, der zunehmend komplexeren Strukturierung von Problemen angemessen gegenübertreten zu können, umso mehr, als dass die Anhäufung von Spannungen bzw. Aggressionen stetig präsent waren und die sich immer wieder verändernden Umweltbedingungen klimatischer Art sowie die sich verändernden Umfeldbedingungen soziologischer Natur dadurch bedingt kontinuierlich zunahmen. In diesem Zusammenhang spielte auch ein anderer Aspekt eine überaus wichtige Rolle, nämlich das Ansinnen, Entwicklungen in verantwortungsbewusster Form so herbeizuführen, dass sich für die gesamte Gemeinschaft Vorteile daraus ergaben bzw. sie sich damit identifizieren konnte.
Aber mit dem Anwachsen der Gemeinschaften auf gesellschaftliches Format verschwand auch die Übersichtlichkeit, was die Probleme betraf, mit denen sich die Menschen nun auseinandersetzen mussten. Die Auflösung der Intension, gemeinschaftlich zusammenzuleben, zugunsten der zum Teil antisozialen Kompression in ein um ein vielfach größeres Verwaltungskonzept – der Gesellschaft, ließ die Menschen zwar gewisse Erleichterungen des Alltags erfahren, aber der Preis, den sie dafür zu zahlen hatten, war dergestalt, dass sie im steigenden Umfang nicht mehr direkt für sich verantwortlich sein konnten, auch wenn sie es wollten.
Die soziologische Ebene, auf der die Menschen im Rahmen der gemeinschaftlichen Lebensform über ihre Geschicke und Missgeschicke zurate saßen, wurde in steigendem Maße labiler oder ihnen ganz entzogen und durch eine administrative, indiskrete und autoritäre Verbots- und Gebotsstruktur ersetzt. Es war nicht mehr wichtig und auch nicht mehr erwünscht, für andere Verantwortung zu übernehmen oder Hilfestellung zu geben, außer man wurde dafür entlohnt, verpflichtet oder war ehrenamtlich tätig. Natürlich blieben Sorgen und Befürchtungen ein Bestandteil des täglichen Lebens, und es kamen sogar mehr und mehr Unwägbarkeiten technokratischer Natur hinzu. Aber Lösungen, welche in einer Art und Weise erforderlich waren, die nicht einem vorgegebenen Normativ entsprachen und dadurch nicht von einer bürokratischen Administrative bereitgestellt werden konnten, mussten nun mehr oder weniger isoliert, also auf sich gestellt, gefunden werden. Der Mensch wurde dadurch in den individuellen Bereichen und problematischen Phasen seines Daseins in aller exekutiven Konsequenz, mit dem Bewusstsein allein zu sein, konfrontiert.
Mit der zunehmenden Auflösung des Zusammenlebens auf Gemeinschaftsebene zugunsten strukturierter Gesellschaftsformen war die Einführung eines neuen Verwaltungs- und Regulationskonzeptes in Form einer staatlichen Rechtsgewalt mit seinem dazugehörigen Gerichtswesen erforderlich, da nur dieses der zunehmenden Komplexität gewachsen schien. Die Faktoren, die innerhalb dieser Komplexität besonders hervortreten, sind die Aufsplittung der inneren Struktur der neuen Gesellschaftsformen in soziale Schichtungen bzw. Existenzklassen und die dadurch heraufbeschworene Diffamierung des Solidaritätsverständnisses sowie die Ausdünnung des naturgegebenen Bedürfnisses, den eigenen physischen, emotionalen, geistigen und psychischen Kapazitätsüberschuss anderen zur Seite stellen zu wollen, ohne Anspruch auf ausgleichende Einforderung.
Das soll nicht bedeuten, dass Rechtsprechung in soziokratisch strukturierten Naturgesellschaften nicht angewandt wurde oder nicht wird sowie für deren Zweck dementsprechende Prozeduren in der Gemeinschaft hierfür etabliert waren bzw. sind. Aber im Gegensatz zum modernen Gemeinschaftsgebilde und dessen Gültigkeitsanspruch besteht hierbei eine ständige und unmittelbare Verbindung aller Gemeinschaftsmitglieder zum Ursprung, zur Erläuterung und zur Entscheidungsfindung in Bezug auf eine dezidierte Problematik. Die Entwicklung und Einhaltung von Regularien bedeuten somit einen hautnah spürbaren Garant für das Fortbestehen einer soziokratisch konsolidierten Gemeinschaftsstruktur, wobei sich jedoch bei Nichteinhaltung dieser Regularien die direkte Chance ergibt, eine drohende Gefahr schon im Vorfeld wahrzunehmen bzw. in gemeinschaftlich-solidarischem Bewusstsein abzufedern bzw. abzuwenden.
Innerhalb einer soziokratischen Gemeinschaft ist das Verständnis betreffend Unrecht allgemein, peripher und gemäß seiner natürlichen Abkunft fest verinnerlicht und stellt im Blick darauf eine gefestigte Relationsgröße in Form durch alle akzeptierte Ordnungsprinzipien des alltäglichen kollektiven Wirkens dar. Sie bilden somit die Grundlage dafür, dass es die Gemeinschaftsmitglieder selbst sein können, die sich auf freiwilliger Basis zusammenfinden, um Verantwortung zu übernehmen und auch zu teilen. Dieser sich durch seine soziologischen Qualität deutlich wahrnehmbare Vorteil gegenüber allen anderen konzeptionellen Formen des Umgangs mit strukturellen Problemen und Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb einer Gesellschaft, leitet sich aus dem simplen Sachverhalt ab, dass es demgegenüber in einer Gemeinschaft, die das soziokratische Prinzip anwendet, es keine urteilserhebende Hierarchie gibt, die alles unter sich einnordet.
Das heißt, es gibt keine autoritäre, einer politischen, wirtschaftlichen und in diesem Sinne verwaltenden Ordnungs- und Organisationsebene unterstehende bürokratische Elite, an die mit exekutiver Allmacht ausgestattet, das eigene und kollektive Verantwortungsbewusstsein per Gesetz abgetreten werden muss und es dabei keine Rolle spielt, ob sich das Gesellschaftsmodell hierbei als demokratisch oder diktatorisch bezeichnet.
Diese leider sich fortwährend wiederholende und sehr oft auch subtil erzwungene Abtretung, denn sonst funktioniert Gesellschaft im Kern nicht, der von Natur aus uns mitgegebenen Kompetenz, Unrecht auf gemeinschaftlicher Ebene zu empfinden und im Kontext eines kollektiven aber fundamental ethisch gelagerten Wirkmechanismus zu relativieren, ist nur dann nötig, wenn Menschen in eine künstliche, nicht naturgegebene Gesellschaftsformation gepresst werden.
Vor allem hinsichtlich einer progressiven Auseinandersetzung mit Visionen und der Entwicklung neuer Konzeptionen in und für alle denkbaren Bereiche einer auf Offenheit und Vorurteilsfreiheit ausgerichteten Gemeinschaft bzw. Gesellschaft kommt das soziokratische Prinzip zum Tragen. Erfahrungen, zukunftsorientierte Ansprüche, Verantwortungsbewusstsein und der unbedingte Vorsatz, das Resultat einer Beschlussfassung direkt und verbindlich mittragen zu wollen, fließen in dieses Verfahren ein und verkörpern dort barrierefrei und ohne jegliche autoritäre Inanspruchnahme Innovationselemente, als die sie wahrgenommen und respektiert werden können.
Dieses Prinzip wird heute noch von vielen Kulturen auf Gemeinschaftsgröße gelebt, unabhängig davon, ob die Gemeinschaft in ihrem Typus matriarchalisch oder patriarchalisch ausgerichtet ist und bildet einen konsistenten Bestandteil ihres Verständnisses von gemeinschaftlicher Verantwortung für die Zukunft und den Erhalt des inneren Gefüges ihrer gelebten und lebhaften Sozialstrukturen.
Eine Volksgruppe, in der dieses Prinzip noch seine praktische und somit alltägliche Umsetzung erfährt, ist zum Beispiel die der Mosuo am Lugu-See im Südwesten Chinas. Neben dem Fortbestehen ihres kulturellen Überbaus, der Wahrung ihrer innersten Werte und dem damit fest verbundenen Verständnis von Zusammenleben, ist das konstituierende Kernelement, die progressive Form der Entscheidungsfindung innerhalb und durch den Familienrat. Alle Problematiken, die dort zur Erörterung gelangen, sind stets Probleme, die alle Familienmitglieder betreffen. Das leitet sich auf natürlicher Ebene aus dem Umstand ab, dass alle in einer Gemeinschaft, die oft nur eine Familie umfasst, zusammenleben. Dieses Verfahrensmodell hat sich über einen sehr langen Zeitraum in ihrer Entwicklungsgeschichte herausgebildet und bewährt und wird heute noch in fast unveränderter Form so fortgeführt. Auch Problematiken, die durch die neuen derzeitigen Aspekte im Rahmen der fortschreitenden Globalisierung, die auch nicht vor solchen Kleinstvölkern haltmacht, hervorgerufen werden, wie zum Beispiel das immer spürbar werdende Eindringen neuer gesellschaftlicher Lebensweisen und die damit einhergehende Ausschwemmung überlieferter Werte, die das Zusammenleben bis dato auszeichneten, werden im Rahmen stattfindender Ratssitzungen auf Augenhöhe erörtert.
Leider ist diese natürliche Art und Weise, gemeinschaftlich und respektvoll zu Entscheidungen zu kommen, die gleichwohl alle betreffen und dementsprechend auch mit und durch sie entwickelt, mitgetragen und umgesetzt werden sollen, global gesehen in Vergessenheit geraten. Dies ist aber nicht versehentlich geschehen, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass die gemeinschaftliche Lebensform von der neuen gesellschaftlichen Sozialität und deren Anforderungen assimiliert bzw. von ihr verdrängt wurde. In dieser unnachgiebigen Konsequenz hätte dies nicht so sein müssen, denn, die verschiedenen Formen der Beschlussfassung, also die soziokratische, demokratische und die juristische, können ohne Probleme neben- und miteinander existieren, ja, sich sogar ergänzen und befruchten.
Auch dafür kann ein Beispiel angeführt werden. In den 1960er Jahren entwickelte Dr. Ing. Gerard Endenburg für sein Unternehmen in Holland ein offenes Organisations- und Steuerungsmodell zur Entscheidungsfindung und Konfliktbewältigung, welches zum Ziel hat, jede einzelne Person, die in diesem Prozess involviert ist, dazu anzuleiten, den jeweiligen persönlichen Toleranzbereich dahingehend auszuloten, einen daraus hervorgehenden Beschluss im Hinblick auf das gemeinsame Ziel – ohne ein schwerwiegendes Nein – mitzutragen, das heißt, sich ganz bewusst zur Kooperation in jeglicher vereinbarter Form bereitzuerklären. Damit befand er sich in unmittelbarer Nähe zum natürlichen Konzept der soziokratischen Entscheidungsfindung, auf deren Grundlage unsere Vorgänger, die Naturvölker, ihren Alltag aufbauten bzw. ihn hierdurch begründeten.
Um das zu erreichen, sind grundlegende Verfahrensprinzipien vorgeschrieben, die die Individualität von Meinungen, Argumenten und Vorschlägen berücksichtigen sowie die Idealität der Gruppe im ständigen Bezug zur verbindenden Thematik belässt und herausfordert und somit gewährleistet, dass die Bearbeitung der Problematiken und die Erarbeitung von darauf abzielenden Lösungen in einer gemeinschaftlichen, für alle akzeptablen sowie zufriedenstellenden Beschlussfassung münden kann. Die Gruppenkonstellation ergibt sich aus der Art der Aufgabenstellung und bildet gleichzeitig ihre dynamische Basis, auf deren Grundlage alle Steuermechanismen im Sinne der Einigung angewendet werden können.
Somit ist Soziokratie im Kern als Bündnis Gleichgesinnter zu verstehen, die ein Team bilden, und in deren unbedingtem Interesse es liegt, Übereinstimmung und Gleichwertigkeit im Sinne der Entwicklung und Umsetzung von konstituierenden Anforderungen herbeizuführen sowie ihre Kräfte und Kompetenzen so zu bündeln, dass ein Problem gelöst, eine Aufgabe bewältigt oder eine Vision wahr werden kann.
Ein wichtiges und gleichzeitig probates Mittel, welches die Strategie von Kräfte- und Kompetenzbündelung unterstützt, ist die konstruktive Fehlerkultur. Anders, als in vielen anderen Entscheidungsprozessen, sind Fehler in der Soziokratie mehr oder weniger dynamische Messungen, die ein angebrachtes und notwendiges Verlassen des Zielkorridors anzeigen bzw. erforderlich machen können. Sie dienen als willkommene Rückmeldung und Orientierungshilfe, um wieder zurück „auf die Gleise zu kommen“. Fehler sind somit erlaubt, immer angemessen, wenn ihr Ursprung nicht verleugnet wird, und gehören unbedingt zum soziokratischen Prozess. Das heißt aber nicht, dass ungenau, "leger" oder fahrlässig entschieden werden soll, sondern einfach, dass Fehler nicht benutzt werden, um eine thematische oder personelle Abwertung vorzunehmen.
In der Soziokratie gibt es nicht die Möglichkeit der Stimmabgabe und der Stimmenthaltung, und das ist zugleich ihre größte Stärke gegenüber allen anderen Formen von Diskussionsrunden und Verhandlungsplattformen, in denen für eine Allgemeinheit Erfordernisse bzw. Argumente in Entscheidung ergehen müssen. Nicht minder kennzeichnend für die Kernstruktur von Soziokratie ist, dass keine Debatten, wie in demokratischen Konzepten, geführt werden, sondern es ist lediglich erforderlich, dass jeder, der an Veränderungen mitwirken möchte, seine jeweiligen Informationen und Argumente prägnant und nachvollziehbar vorträgt.
Innerhalb eines soziokratischen Prozesses ist dadurch jeder, der an diesem teilnimmt, unweigerlich mit dem, was sich aus ihm ergibt, voll und ganz verbunden, ohne einen Weg zu haben, sich davon während des Erörterungsprosses oder später in irgendeiner Art und Weise distanzieren zu können. Verantwortlich hierfür sind die Grundwerte, die ein soziokratisches Verfahren autorisieren und dementsprechend kennzeichnen.
Diese lauten wie folgt:
Das dazu erforderliche, zugleich erprobteste aber nicht statisch festgeschriebene, aber in seiner Geometrie sowie in der Praxis immer wieder angewandte als auch bewährte Modell, in dem diese Grundsätze am effektivsten zur Umsetzung kommen können, ist die Kreisstruktur. Sie bildet den physischen Rahmen, die Analogie und das Symbol zu dem, was sie von Natur aus in der Lage ist vorzugeben, aber auch an individuellen Nutzungsvarianten ermöglicht. Sie ist die älteste und zugleich wirksamste Form des kooperativen und integralen Beisammenseins von Menschen, die um Lösungen und Verbesserungen ringen. Gleichzeitig können alle, die sich in dieser Versammlungsgeometrie zusammenfinden, die Gelegenheit nutzen, sich als ambitionierten Organismus zu begreifen, der dadurch in der komfortablen Lage ist, sich kollektiv zu regulieren als auch anzuspornen und gleichermaßen zu denken und zu wirken.
In ihr werden alle relevanten Informationen gesammelt und einer entscheidungsfördernden Gewichtung zugeführt. Jeder muss seine Fakten, seine Kriterien und Argumente veröffentlichen und stichhaltig begründen, ohne die Verantwortung dafür an einen anderen abgeben zu können. In diesem Versammlungsmodell ist es unmöglich, ein Kreismitglied zu übergehen. Alles, was in ihm geschieht, hat den gleichen Weg zum Zentrum. Somit ergibt sich die beste Möglichkeit, dass Grundsatz- und Rahmenentscheidungen auf Kreisebene gleichwertig im Rahmen des Konsentprinzips getroffen werden können, also ohne „ein schwerwiegendes Nein“. Im Gegensatz zum Konsens, der besagt, dass grundsätzlich eine Zustimmung oder Übereinstimmung angestrebt wird und man dadurch einen Kompromissentscheid Tür und Tor öffnet, und das ist zugleich auch sein hervorstechendster Nachteil. Zusätzlich beherbergt der Konsens seinem Wesen nach eine verbindliche Endgültigkeit, die eine erneute Infragestellung oftmals kategorisch ausschließt.
Das „schwerwiegende Nein“ im Konsent beinhaltet übersehene Argumente oder Informationen, die hierdurch bedingt keiner Erörterung bzw. Würdigung zugeführt werden konnten und die Kreisteilnehmer sich infolgedessen nicht in der Lage sahen, die Informationen, die sich hinter und in dem „Nein“ verbargen bzw. kulminierten, in den Lösungsprozess einfließen zu lassen.
Dieser kleine, aber entscheidende Unterschied zwischen Konsent und Konsens, also das „schwerwiegende Nein“ bzw. dessen Ausbleiben, und alles was sich dahinter verbirgt, verdeutlicht zum einen die sympathische Forderung und die unumwundene Motivation, seitens des Konsents aktiv an der Hervorhebung einer strategisch umsetzbaren Vision mitzuwirken, indem sie in vollem Umfang mitgetragen wird; und zum anderen, den verschleierten Kompromiss seitens des Konsens, also den teilweisen emotionalen und rationalen Rückzug aus einer gemeinsamen Orientierung, weil die jeweiligen Argumente nicht dazu beitragen können bzw. konnten, das Optimum einer Entscheidung herbeizuführen, sondern lediglich in ihrer Tragweite abgemildert werden bzw. wurden.
Die Soziokratie schöpft ihren Beginn und ihr Ende aus dem Kreis. Der Kreis an sich und die internen Prozeduren, die sein Gefüge rechtfertigen, und die er rechtfertigt, lebt und leben lässt durch ambitionierte, motivierte, kritische und tatkräftige Menschen, vereint dadurch, Kontroversen und Probleme zu lokalisieren, zu ordnen und hin zur kooperativen Einigung zu transportieren.
Somit ist der Kreis ein Werkzeug, ein personelles Aggregat, welches einen ethischen, humanistischen und konstruktiven Verhandlungs- und Entscheidungsraum umschließt und seine Bestimmung darin erfährt, dass der Fokus darauf gerichtet ist, ein Problem, eine Aufgabe oder eine Vision rational so zu integrieren, dass einer konsequenten und umfassenden Erörterung, Bearbeitung und Fixierung in Form einer Beschlussfassung auf horizontaler Ebene und durch respektvolles Zusammensein nichts im Wege steht.
Er kann in Bezug auf seine explizite Funktion auch in andere Linear- bzw. Kreisstrukturen als thematisches und funktionelles Element eingebunden oder selbst in weitere Kreise aufgespalten werden. Dazu ist es ohne Weiteres möglich, dass beispielsweise in einer schon existenten Organisationsstruktur, die in ihrer administrativen Anordnung klassisch hierarchisch und vertikal aufgestellt ist, die soziokratische Kreisstruktur als sekundierendes Implantat beigefügt wird. Das bedeutet, unabhängig von ihrer Wichtigkeit und ihrer Verortung in einem Unternehmen, einem Verein oder ähnlichem, können Bereiche ganz oder teilweise in Kreisformationen transformiert werden, ohne die internen Abläufe der bestehenden linearen Organisationsstruktur grundsätzlich zu behindern oder gar zu gefährden.
Das ist möglich, weil der konstituierende Leitgedanke von Soziokratie nicht auf Dominanz, Verdrängung oder Zerstörung eines bestehenden Gefüges abzielt, sondern dazu beitragen soll, notwendige Veränderungen, Entwicklungen und Erfordernisse, die dem vorgeschaltet sind, nicht abstrakt für diejenigen geschehen zu lassen, die davon unmittelbar betroffen sind oder sein werden, sondern mit ihnen und vor allem durch sie, die dazu erforderlichen Konzepte zu generieren. Sie sind dann nicht nur in derartige soziokratische Prozesse involviert, sondern sie liefern auch die unerlässlichen Parameter als Kommentatoren und Initiatoren, die in einer für alle kooperativen und anspornenden Beschlussfassung ihren Widerhall finden.
Der Vorteil gegenüber einer autokratisch-linearen und administrativ-vertikalen Entscheidungshierarchie, in der oftmals nur eine Person oder eine Hand voll Personen die Befugnis innehaben, Entscheidungen treffen zu können, aber darüber hinaus oft nur sehr selten über entsprechend spezifische Kennziffern verfügen, die in eine Entscheidung mit daraus hervorgehender Tragweite einfließen müssen, liegt in der Teilhaberschaft derer, die mit der Umsetzung etwaiger Entscheidungen beauftragt oder durch sie maßgeblich tangiert werden. Das heißt, dass jemand, der an der Darlegung und Entwicklung bestimmter Istzustände und Ziele aktiv beteiligt war oder ist sowie für die Umsetzung mitverantwortlich zeichnet, eine gezielt solidarisch orientierte Identifikationskompetenz herausbildet, da es nicht nur mehr um die Belange einer externen Administration geht, sondern die gemeinsam vereinbarte Vision im Vordergrund steht.
Damit die Kapazitäten des soziokratischen Kreises ihre volle Entfaltung erfahren und abgestimmt auf die Individualität der Gruppe, die sich in ihm zusammengefunden hat, ihre aktive Arbeit aufnehmen können, benötigt der Kreis ein unabdingbares Instrument zur Koordinierung seiner Abläufe. Das diesbezügliche Instrumentarium verkörpert die Mediatorin bzw. der Mediator und deren konsistentes Wirken. In ihrer Funktion als Regulatoren, als entwicklungsbetonte und bewusst kompetente Kreismentoren sowie themenbezogene Gesprächsleiter ebenso auch als Beteiligte selbst, die mit der engagierten Bereitwilligkeit aller anderen Kreismitglieder ein Problem lösen oder eine Direktive umsetzen wollen, sind sie der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die gleichgesinnten Mitglieder der Kreisrunde orientieren. Sie bilden die kontrollierende Tangente zu jeden einzelnen und gleichbedeutend zu allen als Gemeinschaft, aber im besonderen zur Thematik; ihr spezielles Augenmerk richten sie dabei auf ihre Präsenz und Nachvollziehbarkeit.
Ihre eigene Grundhaltung in der Rolle als Gesprächsleiterin oder Gesprächsleiter ist dabei von herausragender Bedeutung. Der Gedanke an Fairness spielt dabei keine Rolle, da in diesem Kontext der Sinn von Fairness darauf abzielt, einen konsens- und nicht konsent-konformen Ausgleich zwischen den argumentativen Ansätzen bzw. Inhalten zu erzeugen. Des Weiteren darf ihnen nicht daran gelegen sein, einen beschwichtigenden Diskussionsverlauf so heraufzubeschwören, dass sich währenddessen kein Kreismitglied auf emotionaler Ebene benachteiligt fühlt, da dadurch die Gefahr besteht, dass die Kreismitglieder ihren Bezug zur Rationalität und zur Brisanz der thematischen Erörterung verlieren und zudem die nötige Distanz zwischen personeller Mediationsführung und den Kreismitgliedern eingebüßt wird.
Mediatorin bzw. Mediator befinden sich im „Zentrum“ des Geschehens, bilden praktisch den ordnenden Kern, von dem aus, wenn es notwendig erscheint, auch eine inspirierende Stimuli in die Gesprächsrunde hineinwirken kann, aber sie sind keine Regisseurinnen oder Regisseure, die sich als solches in der Position sehen könnten, ihre eigene Choreografie umzusetzen bzw. bewusst oder unbewusst das Tempo, den Inhalt des Meetings oder gar die Qualität bzw. Nachvollziehbarkeit von Argumenten der Kreismitglieder zu manipulieren.
Sie müssen sich unter allen Umständen bemühen, die notwendige Balance zwischen der Rationalität der Argumente und der „galoppierenden Aufdringlichkeit“ von Emotionen zu bewahren, und so, wie das für den gesamten Kreisprozess zutrifft, gilt das im besonderen gerade für sie. Gerade für sie deshalb, weil auch sie argumentierende Kreismitglieder sind und somit direkt durch ihr Statement an der Entscheidungsfindung Beteiligung finden. Also müssen sie den anspruchsvollen Spagat zwischen inhaltlicher und praktischer Beteiligung in der Kreisrunde und der Funktion als Mediatorin bzw. Mediator in die Tat umsetzen können. Das stellt eine höhere Anforderung an den Menschen an sich als an seine jeweilige Position im soziologischen Kreisprozess.
Neben einem gereiften ethischen und humanistischen Bewusstsein und dem Wissen um die nötige Professionalität, die solch eine Aufgabe bzw. Position der Mediation erfordert, muss eine Gesprächsführerin bzw. ein Gesprächsführer bestimmte psychische und charakterliche Eigenschaften besitzen.
Das sind zum Beispiel:
Diese Eigenschaften stellen keine Verbrüderung mit dem Idealbild eines geistigen und psychischen Menschen dar. Vielmehr sind sie eine Orientierungsgrundlage, anhand derer eine Kreisgruppe ihre Bevollmächtigte bzw. Bevollmächtigten für die Aufgabe der Gesprächsleitung/Mediation bestimmen kann. Zudem können sie ihre eigenen Qualitäten in diesen Bezug setzen und so ermessen, wo genau sie sich demgegenüber inhaltlich wie auch praktisch mit ihren Charaktereigenschaften befinden.
Demokratie ist in aller Munde und im Verständnis sowie im Zusammenhang von und mit Fortschritt in Richtung einer gerechten wie gleichzeitig humanistisch funktionierenden Gesellschaftsordnung als regulierendes Werkzeug des öffentlich-administrativen sowie des kulturell-dynamischen Zusammenlebens scheinbar nicht mehr wegzudenken. Dies mag bis zu einem gewissen Grad und unter vertretbaren Vorbehalten gerechtfertigt sein. Doch stellt sie nur ein Entwicklungsstadium dar, quasi eine Art von Behausung, in der durch sie geprägte Sozialitäten und Verhältnismäßigkeiten stattfinden bzw. ihren Widerhall finden.
Demokratie lebt aktuell davon, sich im praktischen Sinne in einer Gruppierung von thematisch und argumentativ angeordneten Fraktionen darzustellen, deren eigene Wichtigkeit und Interessen überbewertet und im Vordergrund positioniert sehr oft darin kulminieren, den oder die anderen als Widersacher bzw. Opposition zu kategorisieren, um sie oder ihn durch einen Mehrheitsbeschluss (Stimmenmehrheit) mit ihrer numerischen Unterzahl zu konfrontieren, so wie es im allgemein-politischen Tagesgeschehen gang und gäbe ist. Sie wird als die vorherrschendste Form der Beschlussfassung dadurch verunstaltet und missbraucht und ist somit dazu verdammt, als Zerrbild ihrer eigentlichen progressiven Qualitäten dahinzuvegetieren.
Hierbei wurde und wird Demokratie und ihre Eignungen instrumentalisiert, um eigene Ansprüche anderen gegenüber geltend zu machen und durchsetzen zu können. Als qualitative Vorstufe zur Soziokratie hält sie jedoch um einiges mehr bereit, als autoritätshungrigen Willen dem vereinigenden Konsent – wie er in der Soziokratie genannt wird – gegenüberzustellen. Wenn Demokratie richtig verstanden wird und dahingehend Anwendung findet, kann sie den Weg für Entscheidungen ebnen, die von spezifischen, sach- und fachbezogenen Gremien gefällt werden, da nur sie die nötige Erfahrung und Kenntnis besitzen, um so zum Beispiel die zu entlasten, von denen sie zu diesem Zweck periodisch bzw. legislativ legitimiert worden sind.
In der Demokratie ist die hierfür unabdingbare Voraussetzung die Abgabe der eigenen Stimmrechte und der damit verbundenen Veränderungsmacht. Zugleich ist dies auch der größte konstruktive Schwachpunkt im demokratischen Schemata, da sie dem vorsätzlichen Verlust gleichkommt, einen berechtigten Einwand geltend zu machen oder ein Veto erheben zu können. Was bei demjenigen zurückbleibt, wenn er das an seine Person gebundene Stimmrecht und die Zuversicht, die sich damit verbindet, in ein anderes personelles Mandat übergehen lässt bzw. veräußert, ist nicht mehr als der jeweilige Schatten von Vertrauen, Hoffnung, Notwendigkeit und dem Zeitpunkt, der die Dringlichkeit und Unabwendbarkeit für Veränderungen kennzeichnet, die aber dann als Kopien ihresgleichen in nun anderen Händen erkennen lassen müssen, dass Veränderungen notwendig sind.
Wird dies aber von dem, der das fremde Stimmrecht übernommen hat, nicht in gleichem Maße so gesehen und als verbindlicher Vertrauensbeweis gewürdigt, und reiht er diesen an ihn gerichteten Belang des Stimmabgebers in sein sonstiges Tagesgeschäft ohne konforme Solidarität, sondern eher in allgemeiner Form mit ein, kann sich eine systembedingte Distanz herausbilden. Somit kann es geschehen, dass als Folge die an ihn gerichtete und übergebene Forderung zur Veränderung ihre Brisanz und Energie verliert, weil die dafür erforderliche emotionale Bezugsnähe und direkte Intention nicht mehr gegeben ist.
In der Demokratie übernimmt zudem die Stimmenmehrheit die Funktion eines exekutiven Richterspruchs, der sie gegen jede weitere, wenn auch noch so gerechtfertigte wie nachvollziehbare Kritik abkapselt bzw. sie ihr enthebt und die kritischen Bedenken somit in die Daseinsform eines lediglich kommentierenden Einwandes verbannt. Im soziokratischen Prozess dagegen bildet das Ergebnis eine auf gemeinschaftlicher Ebene erworbene thematische und faktische Übereinkunft, die gerade durch das Erforschen von Bedenken zustande gekommen ist, aber unabhängig von einer personellen Relevanz, durch die diese Kritik getragen wird.
Um der drohenden, aber leider auf demokratischer Ebene oft anzutreffenden Ausdünnung und Entfremdung des Verhältnisses zwischen Intention und Umsetzung vorzubeugen, genügt es, wenn anstelle oder eskortierend zu einer demokratischen Prozedur ein soziokratisches Reglement in Anspruch genommen wird, da die Stimme, die Kraft, die Argumentation und die Lust am Veränderungsprozess beim Eigner der Intention verbleibt. Verantwortung findet dort statt, wo sie sich als Form der Qualitätssteigerung bzw. als Konsequenz zu einem Anliegen befinden muss.
Somit sind Soziokratie und deren Abläufe, die sie kennzeichnen, in ihrer Essenz eine dezidiertere und fortschrittlichere Kommunikations- und Entscheidungsstrategie als das demokratische Verfahrensmodell, mit neuen und andersartigen Anforderungen sowie Bedingungen an alle Akteure.